4. Der sinkende Stern
Ein Beitrag von Ines Krapf
Der folgende Text beschreibt bildhaft und bewegt das Leben von Napoleon und eignet sich wunderbar, um den Schülerinnen und Schülern Geschichte nahe zu bringen. Er ist in vier Teile gegliedert.
Russlandfeldzug - Grande Armée
Auch 1811 sind längst nicht alle Probleme gelöst. Der blutige Guerillakrieg in Spanien und die hartnäckige Feindschaft der Briten bereiten weiterhin Sorgen. Zusätzlich droht ein neuer Krieg, da Zar Alexander die Blockade britischer Handelsgüter umgeht. Die russische Wirtschaft ist auf den Export von Getreide und Holz angewiesen, doch Napoleons Kontinentalsperre hat verheerende Auswirkungen. Die Situation eskaliert, und alle Versuche, zu verhandeln, scheitern. Im Frühjahr 1812 marschiert Napoleon in Russland ein.
Trotz eindringlicher Warnungen seiner Berater hat Napoleon die gewaltigste Streitmacht seit Menschengedenken aufgestellt. Eine Armee von 600.000 Mann aus Franzosen, Italienern, Polen, Deutschen und Soldaten aus allen Ecken seines Reiches schien absolut unschlagbar, ganz gleich was passieren würde. Er war überzeugt, dass er genug Männer hatte, um die Russen zu überwältigen, sie zum Kampf zu zwingen und zu besiegen.
Langsam zieht Napoleons gewaltige Armee durch die russischen Weiten. Er hatte gehofft, den Gegner mit einem einzigen entscheidenden Schlag zu besiegen, doch die Russen entziehen sich der offenen Schlacht. Angesichts der doppelt so großen französischen Armee hatten die Russen keine andere Wahl als sich zurückzuziehen, um ihre Kräfte zu schonen. Doch allein durch diesen Rückzug schwächten sie Napoleons Armee.
Die Tage ziehen sich hin, und die sengende Hitze des russischen Sommers fordert ihren Tribut. Die erschöpften Soldaten erkranken, und viele entscheiden sich zu desertieren. Tausende fallen jeden Tag aus. Nach zwei Monaten hat Napoleon noch keine einzige Schlacht geschlagen, aber bereits 150.000 Mann verloren. Viele ausländische Soldaten gehen einfach nach Hause, da ihre Loyalität zu Napoleon nicht sehr stark ist.
Als der Sommer zu Ende geht, stellen sich die Russen endlich zur Schlacht bei dem Dorf Borodino an der Moskwa. Moskau, die einstige Hauptstadt des russischen Reiches, ist bedroht. Die Schlacht von Borodino wird zu einem Gemetzel. Napoleon lässt sein einstiges taktisches Geschick vermissen und stürzt seine Truppen frontal auf den Feind. Es wird erbittert gekämpft, und am Ende liegen 80.000 Tote und Verwundete auf dem Schlachtfeld. Borodino bringt jedoch keine Entscheidung. Die Russen ziehen sich erneut zurück. Am nächsten Tag erklärt sich Napoleon zum Sieger. Für ihn ist nun der Weg nach Moskau frei. Doch er ahnt noch nicht, was ihn dort erwartet.
Moskau brennt
Als Napoleon die Stadt betritt, findet er sie menschenleer vor. In der Nacht brechen an verschiedenen Stellen Feuer aus. „Berge roter Flammen", wird sich Napoleon später erinnern, „wie riesige Meereswellen. Es war der erhabenste, großartigste, der schrecklichste Anblick, den die Welt je gesehen hat." Die Russen selbst hatten Moskau in Brand gesteckt. Die Zerstörung der Stadt durch die Flammen war ein schwerer Schlag für die französische Armee, denn Napoleon konnte nun nicht in Moskau bleiben.
Der Kaiser fürchtet den nahenden Winter, zögert aber, seine Eroberung einfach aufzugeben. Er bietet dem Zaren Verhandlungen an, doch dieser schweigt beharrlich. Nach fünf Wochen vergeblichen Wartens gibt Napoleon schließlich den Befehl zum Rückzug.
Am 19. Oktober 1812 verlassen die Reste der Grande Armée die Stadt, gefolgt von einem Wagenzug mit Beutegut. Es ist ein warmer Herbsttag. Drei Wochen später beginnt es zu schneien. Der russische Winter bricht früh in diesem Jahr aus, und die Temperaturen sinken auf minus 22 Grad. Napoleons Soldaten sind der gnadenlosen Kälte schutzlos ausgeliefert. „Unsere Lippen klebten aneinander fest", berichtet ein Soldat, „unsere Nasenlöcher froren zu, wir schienen durch eine Welt aus Eis zu marschieren."
Der Rückzug aus Russland wird zum Leidensweg. Es gibt keine Vorräte mehr. Sie kämpfen gegen Hunger, Kälte, Schwäche und Krankheiten, und gegen die Kosaken, die immer wieder wie aus dem Nichts auftauchen und die geschwächten Franzosen angreifen. So wird die französische Armee nach und nach aufgerieben, bis sie als Streitmacht nicht mehr existiert. Napoleon muss den Untergang seiner Armee miterleben.
Als Gerüchte über einen Staatsstreich ihn erreichen, lässt er seine Truppen am 5. Dezember 1812 im Stich und eilt zurück nach Paris. Unterwegs im Schlitten durch halb Europa sagt er: „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt." Sein Satz wird berühmt.
Er hat eine halbe Million Soldaten verloren. Von den ursprünglichen 600.000 sind nur noch 93.000 übrig. „Es wird der Anfang seines Endes“, wird sein einstiger Außenminister Talleyrand später sagen. Napoleons Feinde wittern Morgenluft. Briten, Russen, Preußen und Schweden schließen sich gegen ihn zusammen. Nur Österreich, wo sein Schwiegervater regiert, zögert noch.
Völkerschlacht bei Leipzig
Unmittelbar nach seiner Rückkehr begann Napoleon damit, neue Soldaten auszuheben. Mit einer nur schlecht ausgebildeten Armee marschierte Bonaparte nach Deutschland. Anfangs zeigten sich noch einmal die militärischen Fähigkeiten Napoleons, siegt aber nicht mehr vollständig. Im Herbst 1813 stellen die Alliierten Napoleon bei Leipzig. Sie besitzen doppelt so viele Soldaten wie er. Drei Tage dauert die Völkerschlacht bei Leipzig, sie endet mit einer verheerenden Niederlage Napoleons. Der Glaube an seine Unbesiegbarkeit ist dahin. Überall sind seine Armeen zum Rückzug gezwungen. „Vor einem Jahr", sagt er, „marschierte ganz Europa an unserer Seite, heute marschiert ganz Europa gegen uns." Napoleon zog sich mit den Resten seiner Armee hinter den Rhein zurück.
Anfang 1814 ist Napoleon in Paris, als er erfahren muss, dass seine Gegner in Frankreich eingedrungen sind. Am Morgen des 25. Januar 1814 verabschiedet er sich von seiner Frau und seinem Sohn, er wird sie nie mehr wiedersehen. Auf seinem letzten Feldzug quer durch Frankreich zeigt Napoleon noch einmal militärische Brillanz, doch seine 70.000 Soldaten sind den 260.000 der Koalitionsarmee nicht gewachsen.
Einsam in Elba
Der Krieg ist vorbei. Am zwölften April 1814 unterzeichnet Kaiser Napoleon seine Abdankung. An diesem Abend nimmt er eine Phiole mit Gift aus dem Lederbeutel und leert ihren Inhalt in ein Glas Wein. Doch das Gift ist nicht stark genug, Napoleon überlebt und muss mit ansehen, wie ihm alles, was er je erreicht hat, genommen wird.
Eine britische Fregatte bringt den 45-jährigen Napoleon ins Exil auf die Mittelmeerinsel Elba. Er hat ein Imperium geschaffen und wieder verloren. Auf der Fahrt kommt Korsika in Sicht, die Insel, auf der er geboren wurde, eine bittere Erinnerung an seinen steinigen und letztlich vergeblichen Aufstieg. Man weist ihm eine Villa zu, auf einem Felsen hoch über dem Meer. Hier soll er nun für den Rest seines Lebens bleiben. Seines glanzvollen Titels beraubt, darf er sich jetzt wenigstens Kaiser des Inselreichs Elba nennen.
Als Napoleon auf Elba ankam, war er zunächst verzweifelt und deprimiert, doch er fand sehr schnell zurück zu zwei wichtigen Säulen seines Lebens: zur Arbeit und zum Handeln. Er kümmerte sich um die Insel, als wäre sie ein großes Land. Er organisierte seinen Hof, ernannte einen Zeremonienmeister, einen Finanz- und einen Kriegsminister und entwarf sogar eine Flagge. Er ließ Oliven- und Maulbeerbäume pflanzen, Straßen pflastern und regelmäßig den Abfall beseitigen. Er verkündete seinen Untertanen, 13.000 Bauern, sie dürften nicht mit mehr als fünf Personen in einem Bett schlafen.
Elba war für ihn die verkörperte Langeweile. Viele Tage verbrachte Napoleon im Sattel, erkundete die überschaubare Insel. Monate gingen ins Land. Unaufhörlich dachte er an Frankreich, wo die Alliierten das Königtum wieder eingeführt und alle Bourbonen auf den Thron gesetzt hatten. Ludwig XVIII. besaß weder Napoleons Genie noch sein Charisma. Unter ihm wurde Frankreich zu einer konstitutionellen Monarchie, doch die Wirtschaft kam nicht in Schwung. Die Royalisten drohten, die Errungenschaften der Revolution abzuschaffen. Schon bald war der neue König unbeliebt.
Flucht und die Herrschaft der Hundert Tage - Waterloo
Zehn Monate beobachtete Napoleon das Geschehen und wartete ab. Am 26. Februar 1815 gelingt ihm die Flucht von der Insel, zusammen mit 1100 Soldaten und Offizieren, die ihm treu ergeben sind. Nach der Landung in Frankreich steht nur noch die königliche Armee zwischen Napoleon und Paris. Sechs Tage später trifft er bei Grenoble auf ein Infanterieregiment, das ihm den Weg versperrt. Napoleon tritt den Männern allein entgegen. „Soldaten", ruft er, „ist einer unter euch, der seinen Kaiser töten will? Hier bin ich.“ Anstatt zu schießen, lassen die Soldaten ihren Kaiser hochleben! „Es lebe der Kaiser!", rufen sie begeistert. Zwei Wochen später ist Napoleon in Paris, und König Ludwig XVIII. ist geflohen. Die Nachricht schlägt wie eine Bombe ein.
Es lebe der Kaiser! Den ganzen Weg bis Paris. Doch Napoleon hatte nicht wirklich eine Chance. Seit Monaten streiten die europäischen Fürsten und Staatsmänner auf dem Wiener Kongress über eine neue Friedensordnung in Europa. Nach der Schreckensbotschaft von Napoleons Rückkehr ziehen England, Preußen, Österreich und Russland wieder an einem Strang. Er hatte ganz Europa gegen sich. Ende Mai stehen die britische und die preußische Armee in Belgien, österreichische und russische Truppen sind unterwegs.
Trotz aller Schwierigkeiten gelang es Napoleon, eine gut ausgerüstete Armee von 125.000 erfahrenen Soldaten auszuheben. Wie gewohnt plante Bonaparte, die Gegner nacheinander zu schlagen.
Anfangs gelang es ihm, einen Keil zwischen die britische Armee unter Wellington und die preußischen Truppen unter Blücher zu treiben. Am 16. Juni schlug er die Verbündeten in der Schlacht bei Quatre-Bras und der Schlacht bei Ligny, jedoch nicht entscheidend. Am 18. Juni 1815 griff Napoleon die alliierte Armee von Wellington nahe dem belgischen Ort Waterloo an. Wellingtons britisch-deutsche Verbände gelang es mit Mühe, die günstige Stellung gegen alle französischen Angriffe im Wesentlichen zu halten. Die preußischen Truppen unter Marschall Blücher hatten sich nach ihrer Niederlage bei Ligny neu formiert und trafen noch rechtzeitig ein, um die Schlacht zu entscheiden. Napoleon wurde endgültig geschlagen.
Verbannt nach St. Helena
Am 22. Juni 1815, vier Tage nach der Schlacht bei Waterloo, begibt sich Napoleon erneut ohne Aussicht auf Zuflucht in die Hände der Briten. In einem Landhaus in der Nähe von London äußert er den Wunsch, „zu wohnen", doch sein Wunsch wird abgelehnt.
Stattdessen schicken die Briten ihren alten Erzfeind wieder ins Exil. Diesmal sorgen sie dafür, dass er nicht mehr zurückkommt. Großzügig erlauben sie ihm, ein paar seiner Getreuen mitzunehmen. Dann bringen sie ihn und sein kleines Gefolge zu einem abgelegenen Vorposten ihres Imperiums im südlichen Atlantik, auf eine karge Vulkaninsel namens St. Helena. Als eine der mitreisenden Damen erfährt, wohin man sie bringt, versucht sie über Bord zu springen.
Auf St. Helena kann man nicht fliehen. Die Insel ist fernab gelegen, ein Stück Fels im Meer, vom Wind gepeitscht. Als Napoleon diese natürliche Festung zum ersten Mal sieht, versteht er, dass sie sein Grab sein wird. Einst beherrschte er fast ganz Europa, jetzt findet er sich auf einem Fleckchen Erde wieder, das nur 16 Kilometer lang und 9 Kilometer breit ist. St. Helena ist sein Gefängnis, bewacht von 2000 Soldaten und zwei Kriegsschiffen, die Tag und Nacht die Insel umkreisen.
Sein letzter Palast ist ein Holzhaus, das früher einmal ein Viehstall war. Es ist eine kleine, elende Farm. Ununterbrochen bläst der Wind, ständig herrscht Nebel, die Feuchtigkeit dringt durch Wände und Kleidung. Napoleon ist 46 Jahre alt, und er hat nichts anderes mehr zu tun als zu essen, zu schlafen und eine Beschäftigung für seinen Geist zu suchen. „Sterben", sagt er, „ist nichts. Aber besiegt und ohne Ruhm zu leben, heißt jeden Tag zu sterben."
Auch noch des kleinsten Überrestes seiner einstigen Macht beraubt, führt Napoleon auf St. Helena einen aussichtslosen Kampf gegen die Langeweile. Er gärtnert, liest jedes Buch und Journal, das ihm in die Hände fällt. Er versucht, ein Stück von Voltaire umzuschreiben und etabliert eine gewisse Etikette für seinen minimalen Hofstaat. Nur eine Waffe ist ihm geblieben: seine Worte. Mit ihnen bestreitet er seine letzte Kampagne. Tag für Tag diktiert er seine Erinnerungen und schmiedet Legenden aus dem Stoff seines Lebens.
Die Zeit schleppt sich dahin, Napoleon wird krank und gerät bald in einen Zustand tiefster Verzweiflung. Er hat jede Hoffnung verloren. Er ist allein in seinem kleinen Zimmer, brütet vor sich hin und starrt den Regen an. Fünfeinhalb Jahre lebt Napoleon Bonaparte auf Sankt Helena. Am 5. Mai 1821 ist er nicht mehr ansprechbar, am gleichen Tag stirbt er. Napoleon ist nur 51 Jahre alt geworden.