Pädagogische Miniatur über einen Schullandheim-Aufenthalt

Ein Beitrag von Christian Seitz

Ich hatte einmal eine Schülerin, die durch Kinderlähmung nur sehr bedächtig gehen konnte, meist zwei Krücken benutzte und bei längeren Ausflügen im Rollstuhl gefahren wurde. Man bemerkte bei ihr in besonderem Maße, wie eine Behinderung seelische Kräfte freisetzen kann: Nie erlebte ich sie ungeduldig, launenhaft oder verbiestert. Unter den Mädchen war sie wegen ihrer ausgeglichenen, ausgleichenden Wesensart sehr beliebt, sie galt als besonders vertrauenswürdig und etliche der Mädchen erzählten ihr ihre stillen Geheimnisse. Bei den Buben galt sie als „ganz in Ordnung“.

Und dabei war nichts Besonderes über sie zu berichten. Sie hatte keine besonderen Talente, Begabungen oder Fähigkeiten, sie tat nichts Ungewöhnliches und fiel auch nicht besonders auf und war doch etwas Besonderes. Das Auffallendste an ihr war ihre äußerlich sichtbare Behinderung und ihre ungewöhnlich feinfühlige Wesensart, die sie weit über ihre Altersgenossen stellte.

Es ist ein Segen, solch‘ stille, in sich ruhende Menschen kennen zu dürfen, denn an ihnen können wir erfahren, dass Stille nicht nur Lautlosigkeit ist, nicht nur Abwesenheit von Lärm, sondern dass Stille eine Qualität enthält, die sich im Schweigen ausspricht. Es handelt sich um eine in sich ruhende Präsenz, um ein gelassenes Da-Sein. Es handelt sich um Menschen, die „ihr Leben ohne Geräusch zubringen“, wie Goethe es einmal ausdrückte.

Der Rollstuhl des Mädchens, der viel auszuhalten hatte und u.a. auch auf Nachtwanderungen in den Wald mitgenommen wurde, sollte in einem ganz anderen Zusammenhang noch eine Rolle spielen. In derselben Klasse saß ein unwahrscheinlich beweglicher Junge, dessen Flinkheit bisweilen atemberaubend war und der mit einem ausgeprägten Sinn für Späße gesegnet war. Besonders auf Ausflügen galt es ein wachsames Auge auf ihn zu haben, denn ihm war kein Baum zu hoch, um nicht erstiegen, kein Bach zu tief, um nicht durchwatet zu werden. Er war geradezu von einer begnadeten Neugier beseelt, die dem für ihn Verantwortlichen manchen Tropfen des Angstschweißes auf die Stirne zaubern konnte.

Auf einem Ausflug während eines Schullandheim- Aufenthaltes, auf dem der erwähnte Rollstuhl mitgeführt wurde, gingen die Kinder gemeinsam einkaufen und ich blieb in der Anlage eines Denkmals zurück. Auch das oben erwähnte Mädchen ging mit und übergab ihren Rollstuhl meiner Obhut. Da keine bequemere Sitzmöglichkeit vorhanden war, setzte ich mich in den Rollstuhl und erwartete so die Rückkehr der Einkaufenden.

Als einer der Ersten kehrte jener Junge zurück und kaum, dass er mich in dem Rollstuhl gesehen hatte, bot er mir an, mich ein wenig herumzufahren. Nun muss ich noch erwähnen, dass sich gegenüber des Denkmals, das durch einige Stufen von der Straße getrennt war, eine Bushaltestelle mit einer Sitzbank befand. Hier hatten in der Zwischenzeit einige ältere Herrschaften Platz genommen, die sich langsam einfindenden Kinder direkt vor Augen. Mich selbst sahen sie von Anfang an im Rollstand sitzend.

Nun wurde ich also um das Denkmal herumgefahren, wobei sich das Tempo mehr und mehr steigerte. Der wie immer zu allerlei Späßen aufgelegte Junge fragte mich, ob mir das Tempo nicht vielleicht zu schnell werde, worauf ich erwiderte, dass davon keine Rede sein könne. Und so steigerte er das Tempo nochmals und fuhr dann auf die erwähnte Treppe zu, die der Bushaltestelle gegenüber lag. Er rief mir zu: „Und jetzt müssen Sie abspringen!“ Er bremste unmittelbar vor der Treppe und ich – darauf vorbereitet – sprang aus dem Rollstuhl und noch im Flug sah ich die erschreckten Gesichter der Wartenden. Da wurden Augen plötzlich sehr groß und weiteten sich vor Schreck.

Als ich auf den Füßen landete, begann ich langsam den Grund für das Erschrecken der Wartenden zu verstehen. Und als ich mich nach oben zu den Kindern umdrehte, sah ich, dass der Junge ebenfalls das Erschrecken gesehen hatte und dass auch er langsam die Dinge aus der Sicht der Erschreckten zu begreifen begann. Ich stieg die Stufen hoch, setzte mich wieder in den Rollstuhl und ließ mich noch einige Runden herumfahren. Das Ganze hatte sich natürlich unter den Kindern herumgesprochen und rief verständlicherweise einiges Gelächter hervor. Dabei beobachtete ich aus den Augenwinkeln heraus wie die Erschreckten sich noch empörten, wobei ich nicht sicher sein konnte, über wen sie wohl schimpften: über die „unmögliche heutige Jugend“ oder über den „völlig geistvergessenen Volkserzieher“, der sich für derlei unverantwortliche Späße hergab. Zum Glück kam dann bald der Bus und nahm seine Ladung auf.

*

Nach Rückkehr in den Schulalltag wurden die im Schullandheim geschossenen Fotos angeschaut, verglichen und bestellt. Und so bekam auch ich ein Foto gezeigt, auf dem der erwähnte Junge mit ängstlich forschendem Blick aus einem Kleiderschrank herauslugte. Nun sollte ich raten, bei welcher Gelegenheit dieses Foto geschossen worden war. Ich sah es mir genauer an und erkannte einen der Kleiderschränke, mit denen die Zimmer im Schullandheim ausgestattet waren. Auf meine eingestandene Unkenntnis hin erläuterte man mir die näheren Umstände, die zu diesem Schnappschuss geführt hatten.

Ich möchte hier vorausschicken, dass es sich um die erste Unternehmung dieser Art meinerseits handelte. Und so hatte ich mir erst nach ein paar Tagen des Aufenthaltes im Schullandheim die Freiheit genommen die Zimmer der Kinder zu inspizieren. Diese hatten sich langsam aber sicher in einen Zustand verwandelt, wie ich ihn mir nach dem Durchzug eines mittleren Wirbelsturmes vorstellte.

Socken, die zusammengeknäult in Schuhe gestopft worden waren, legten Zeugnis von unseren schweißtreibenden Wanderungen ab und erfüllten die Zimmer mit einer herben Duftnote, die den völlig Unvorbereiteten in arge Verlegenheit bringen konnten.

Diese Duftnote wurde von Unterwäsche, die in sich verknüllt, unter den Betten zwischengelagert worden waren, mit einer weiteren Nuance bereichert und das Ganze konnte man am ehesten noch den holzigen Herrendüften zurechnen, wobei sich weder die leichtflüchtige Kopfnote, noch die aromareiche Herznote gegen die schweren, langhaftenden Bestandteile der Basisnote durchzusetzen vermochten.

Dieser „Duft- Cocktail“ hatte in seiner herben Nuancierung längst die Schwelle des „aufdringlichen Duftes“ überschritten und befand sich jenseits der „Fluchtschwelle“, die nach Aussagen erfahrener Parfumeure „unbewusst eine Fluchtreaktion auslösen“. Ein Besuch in den selbigen Zimmern hätte zweifellos jedes noch so vielversprechende Riechfläschchen ersetzt, wenn man denn ein solches benötigt hätte.

Derlei Zustände ließen mich nun mit einiger Bangigkeit an die Mütter der mir Anvertrauten denken. Und so hatte ich jenen Entschluss gefasst und auch sogleich bekanntgegeben, dass ich die Zimmer und die Schränke einer Inspektion zu unterziehen gedenke. Auch hatte ich die Anweisung ausgegeben, dass in dieser Zeit der Instandsetzung der Räumlichkeiten kein Besuch in anderen Zimmern erlaubt sei und dass Zuwiderhandelnde mit wüsten Strafen zu rechnen hätten.

Nach dem angesetzten Zeitraum machte ich mich wie ein Revisor auf, die mir untergebenen Ressorts einer gründlichen Kontrolle zu unterziehen. Und so kam ich auch in die Räumlichkeit einer Mädchengruppe, die an sich immer ein recht aufgeräumtes Zimmer bewohnte. Ich bemerkte noch eine gewisse Nervosität der Mädchen, die ich aber auf die erwähnte Kontrolle zurückführte. Gerade als ich den Schrank eines der Mädchen öffnen wollte, bat dieses mich, mir doch zunächst ein anderes Zimmer anzuschauen, da sie zwar mit dem Zimmer fertig seien, sie aber für die Schränke noch nicht ausreichend Zeit gefunden hätten.

Da ich die Mädchen ja als durchaus ordnungsliebende Gruppe kennengelernt hatte, meinte ich, dass es bestimmt nicht so schlimm sei und hatte den Schlüssel des erwähnten Schrankes auch schon mit der Rechten erfasst – als ich aus einem mir nicht erklärbaren Impuls heraus von diesem Vorhaben wieder Abstand nahm und mir ein anderes Zimmer zur Inspektion vornahm, worauf eine gewisse Erleichterung auf den Gesichtern der Mädchen erschien. Ich verließ also das Zimmer, brachte meine Runde zu Ende, kam schließlich in das Zimmer der Mädchen zurück und fand Alles in schönster Ordnung vor.

Das Ganze erschien mir als ein Erfolg, denn die Zimmer wurden hernach nicht mehr den erwähnten Naturkatastrophen ausgesetzt und auch die Duftnoten in ihnen hatten viel von ihrer herben Aufdringlichkeit verloren. Allerdings setzte dies ein regelmäßiges Interesse für die Räumlichkeit voraus.

Und nun bei der Rückkehr erkannte ich anhand des Fotos den Zusammenhang und die Ursache der Nervosität und der sich anschließenden Erleichterung der Mädchen. Der Schrank auf dem Foto war eben jener, dessen Schlüssel ich schon erfasst und dann doch wieder losgelassen hatte und aus dem nun der Bubenkopf mit ängstlich forschenden Augen herauslugte. Ich deutete ein verstehendes Lächeln an und war froh und erleichtert, nicht gezwungen gewesen zu sein, die angedrohten wüsten Strafen verhängen zu müssen.

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