Pädagogische Miniatur über einen kleinen Pfiffikus
Ein Beitrag von Christian Seitz
Ich hatte einmal einen Schüler, den sowohl im Körperbau wie auch im Seelischen eine besondere Zartheit auszeichnete, in dessen Augen aber der Schalk blitzte, der ihm im Nacken saß. Er konnte durch eine dazwischen geworfene Bemerkung, die frei von aller Boshaftigkeit war, das Geschehen in umwerfender Weise kommentieren.
So konnte im Mathematikunterricht ein knochentrockenes: „Das versteht doch kein Mensch!“, in der Klasse einen Heiterkeitsausbruch auslösen, dem auch ich mich nicht zu entziehen vermochte. Sein Humor entzündete sich an der Situation und kann hier nur spärlich aufleuchten, da man die gesamte Situation erlebt haben musste, um das Befreiende einer solchen Bemerkung erfassen zu können.
Er ließ sich in seiner Entwicklung etwas mehr Zeit als seine Altersgenossen und ging das Ganze in dem ihm gemäßen Tempo etwas ruhiger an. Ihm hatte ich nun einen der schönen Zeugnissprüche von Martin Tittmann gegeben:
„Dein Wille kann dir starke Kräfte schenken,
wenn du ihm gute Wege, hohe Ziele weist.
Woher empfängst du Weg und Ziel?
Aus dem Geist,
aus warmem Herzen und aus klarem Denken.“
Er sprach den Spruch, ganz seiner Wesenheit entsprechend recht zart und so überhörte ich denn eine geraume Zeit eine kleine aber feine und doch höchst bedeutsame Abwandelung des Spruches:
„Dein Wille kann mir starke Kräfte schenken,
wenn du ihm gute Wege, hohe Ziele weist.
Woher empfängst du Weg und Ziel?
Aus dem Geist,
aus warmem Herzen und aus klarem Denken.“
Wie gesagt überhörte ich zunächst die kleine Abwandelung und ermutigte ihn immer wieder, diesen Spruch doch noch kräftiger vorzutragen. Und ich erfasste dann auch die kleine, aber feine und doch so bedeutsame Abänderung des Spruches:
„Dein Wille kann MIR starke Kräfte schenken,
wenn du ihm gute Wege, hohe Ziele weist.
Woher empfängst du Weg und Ziel?
Aus dem Geist,
aus warmem Herzen und aus klarem Denken.“
Der kleine Pfiffikus hatte – ohne alle Absicht oder Berechnung – den Spruch, den ich - ihm gegeben hatte, an mich zurückgereicht, denn durch die kleine Abänderung bekam der Spruch eine höchst bedeutsame Nuancierung: Er hatte mich in die Pflicht genommen!
Abändern in die ursprüngliche Form wollte ich den Spruch dennoch nicht mehr und ich ließ diesem kleinen Pfiffikus seinen Spruch. Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, wenn man sich die Tragweite dieser winzigen Abänderung vor die Seele stellt.
Der Spruch war von Martin Tittmann als eine Art Selbstverpflichtung formuliert worden und in dieser Absicht hatte ich ihn auch an den kleinen Pfiffikus weitergegeben. Aber nun stand ich in der Pflicht!
Der Leser möge sich den kurzen Spruch in seiner Abänderung meditativ durch die Seele ziehen lassen. Er umspannt die ganze Weite der Beziehung des Erziehers – Eltern wie Lehrer – zu den ihnen anvertrauten Schützlingen:
„Dein Wille kann MIR starke Kräfte schenken,
wenn DU – ihm gute Wege, hohe Ziele weist.
Woher empfängst DU Weg und Ziel?
Aus dem Geist,
aus warmem Herzen und aus klarem Denken.“