Pädagogische Miniaturen über das Zuhören
Ein Beitrag von Christian Seitz
Bis zur 8. Klasse klingt der Hauptunterricht mit dem Erzählteil aus. In diesem entfaltet sich die Seelen- und Bewusstseinsentwicklung der Menschheit, die in der 1. Klasse mit den Märchen beginnt und in der 8. Klasse mit den Biografien endet. Die Bilder dieser Seelen- und Bewusstseins-Entwicklung entsprechen dem Weg des sich entwickelnden Kindes und begleiten es bei seinem Herabstieg in die Erdenwelt, indem sie ihm Fragen beantworten, die in den Tiefen seiner Seele aufsteigen.
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Ich hatte einmal einen Schüler, der mit offenem Munde die Geschichten des Erzählteils in sich aufsog und der das Geheimnis des Zuhörens in folgender Weise offenbarte:
In der 6. Klasse erzählte ich gerade von Parzifal, der sich von seiner Mutter verabschiedet hatte und mit ihren Ratschlägen im Herzen und dem Narrenkostüm auf dem Leibe zu seiner Fahrt aufbrach. Er kommt dann an ein Flussufer, das er – getreu den Ratschlägen seiner Mutter – nur an einer klaren Furt überqueren will. Er sucht und findet schließlich eine solche auch und erblickt nun am gegenüberliegenden Ufer ein prachtvolles Zelt, in dem eine Frau schläft, was er aber noch nicht wissen kann. Das Überqueren der Furt sollte aber erst am nächsten Tag erfolgen, da der Hauptunterricht vorüber war und der Erzählteil an diesem Tage also mit dem Bild Parzifals an der Furt ausklang. Und ich schloss mit den Worten: „Was Parzifal in diesem Zelt erlebt, das erzähle ich Euch morgen.“ Und der erwähnte Schüler rief mit einer gewissen Vorfreude ins Klassenzimmer: „Das mit dem Zelt morgen wird klasse!“ Er kannte also schon die Erzählung, was er mir – auf meine Nachfrage hin bestätigte.
Hier offenbart sich ein erstes Geheimnis des Zuhörens: Der Zuhörer schlüpft so in die Bilder des Erzählten, dass er den Inhalt gegenwärtig neu miterlebt, auch wenn er diesen schon kennt. Es ist die Freude am Eintauchen und Miterleben der Abfolge der Bilder. Und wer weiß? Vielleicht hat sich das Geschehen in der Zwischenzeit ja verändert, vielleicht nimmt die Erzählung heute eine neue Wendung? Wer weiß das schon?
Der Leser bezweifelt vielleicht, dass sich Kinder derart in ein Geschehen hineinversetzen können? So überzeugt ihn vielleicht der Bericht einer Mutter, die ihrem Sohne eine Erzählung vorlas und davon in einem Briefe* an ihren Mann schreibt: „... eben habe ich Egor zu Bett gebracht und ihm wieder aus Kipling vorgelesen. Diesmal von dem kleinen Elefanten. Aber plötzlich, als die Geschichte mit dem Krokodil begann und der arme kleine Elefant es so schwer hatte und leiden musste, da drückte Egor beide Fäustchen an die Nase und bekam so runde, tränenerfüllte Augen, dass ich es nicht länger aushalten konnte und ihn trösten musste: «Du brauchst nicht traurig zu sein, Egoruschka! Du weißt doch, alles wird gut, das Krokodil wird den kleinen Elefanten nicht auffressen, wir haben die Geschichte doch schon oft gelesen...» - «Aber wenn er heute nicht stehen bleibt und in den Fluss fällt ... dann ist es aus...»“
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Wie sehr Kinder in ein Bild einzutauchen vermögen, indem sie sich mit dem Helden identifizieren, zeigte mir ein anderer Schüler: In der 5. Klasse erzählte ich von Herakles und seinen Taten. Zuvor aber musste er aber erst eine Entscheidung fällen, die seinen weiteren Lebensweg bestimmen sollte: Herakles am Scheideweg. Ich malte also die Situation breit aus und stellte der Tugend die Liederlichkeit gegenüber. Und nachdem die Liederlichkeit dem jungen Helden in freundlichen Worten all die Annehmlichkeiten aufgezeigt hatte, die auf den warten, der ihren Pfaden folgt, schilderte die Tugend in doch recht nüchternen Worten, dass die Götter nur dem Ruhm und Ehre zusprechen, der sich diese durch Mühe und Anstrengungen verdient.
Und während nun die Liederlichkeit mit Genuss und Vergnügen lockt und die Tugend das Wohlwollen der Götter in Aussicht stellt, trieb ich die Spannung noch etwas in die Höhe und malte den jeweils dargebotenen Lebenslauf in einzelnen Bildern aus und beobachtete bei einem der Schüler, der mit offenem Munde zuhörte, wie er sich immer weiter nach vorne beugte und von der Situation ganz gefesselt war.
Nun schilderte ich noch die Überlegungen des Herakles‘, ob er lieber der Liederlichkeit folgen wolle oder sich den Herausforderungen der Tugend stellen solle. Ich erlöste den inzwischen atemlos Zuhörenden, indem ich berichtete: „Und so entschließt sich Herakles schließlich und folgt dem Weg der .... TUGEND!“ Da entfuhr es dem Schüler: „Das hätt‘ ich auch gemacht!“ Und keiner der Anwesenden kommentierte diesen Zwischenruf in irgendeiner Weise. Er war wohl allen aus dem Herzen gesprochen.
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Wieder ein anderer Schüler, der ebenfalls atemlos zuhören konnte, offenbarte das Geheimnis des Zuhörens in einem weiteren Aspekt:
In einer 6. Klasse erzählte ich vom Herzog Ernst, der mit Graf Wetzel und weiteren Getreuen eben dem Magnetberg entkommen war und die nun durch einen wilden, unwegsamen Wald irrten und schließlich an einen Fluss kamen, der in eine Berghöhle floss. Sie bauten sich nun ein Floß, empfahlen sich dem Schutze Gottes und stießen vom Ufer ab. Nach der abenteuerlichen Fahrt durch den Berg kamen sie an einen Strand, auf dem ihnen Menschen entgegenliefen.
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir das Ende des Hauptunterrichts und damit des Erzählteils an und ich schloss deshalb mit den Worten: „Diese Menschen sehen aber etwas anders aus, als Menschen, denen Herzog Ernst und seine Mannen bisher begegnet sind. Wie die aber aussehen, das erzähle ich Euch dann morgen!“
Da entfuhr es dem erwähnten Schüler halblaut, aber doch so, dass es alle hören konnten: „Die haben nur ein Auge!“ Ich fuhr ihn etwas unsanft an:
„Musst Du denn Alles verraten?!“ Worauf er entgegnete: „Ja, stimmt das denn?“ Nun war es an mir zu staunen: „Kennst Du die Geschichte wirklich nicht?“ Er versicherte mir, dass ihm die Geschichte völlig neu sei und ich bestätigte ihm seine Vermutung und hatte etwas zum Nachdenken: Wie konnte er das Bild der einäugigen Menschen erfasst haben? Mir bieten sich zwei Erklärungsmöglichkeiten an: Entweder liegt in der Bilderfolge der Erzählung eine „Seelen-Logik“, die der Schüler intuitiv erfasst hatte. In der Erzählung vom Herzog Ernst treten nämlich schon sehr absonderliche Menschen auf: Menschen mit Kranich-Köpfen, die mit ihrem Schnabel töten können; Menschen mit Ohren, die bis auf den Boden reichen und die als Wärmeschutz um den Körper geschlungen werden können; Menschen mit so großen Füßen, dass sie diese bei Regen als Schirm verwenden können, wenn sie sich auf den Rücken legen. Außerdem kommen noch Riesen und Zwerge in der Erzählung vor, so dass der Erzählung in ihrer Entwicklung tatsächlich eine innere Seelen-Logik zugrunde liegen mag.
Andererseits könnte der Schüler mit seinen Ätherkräften das Bild der einäugigen Menschen, das ich in meinem eigenen Ätherleib erzeugt hatte, wahrgenommen haben. In beiden Erklärungsmöglichkeiten scheint der Schüler beim Zuhören Ätherkräfte als Wahrnehmungsorgane eingesetzt zu haben. So lässt sich mit Bezug auf das Zuhören zusammenfassen: Ein Teil der Ätherkräfte, die im 2. Jahrsiebt frei werden, ermöglichen in ihrer Lebendigkeit und Beweglichkeit ein derart intensives Hineinhorchen/Lauschen, dass dieses Lauschen auf die Ätherkräfte formend und gestaltend zurückwirkt und so das sich entwickelnde Kind auf seinem Weg in die irdischen Gegebenheiten begleitet.
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* Die Briefstelle fand ich in dem Buch von Andrej Sinjawski: „Eine Stimme im Chor“. Er war 1966 zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt worden. In dieser Haft entstand jener Briefwechsel mit seiner Frau Maria.