Pädagogische Miniaturen über den Rubikon
Ein Beitrag von Christian Seitz
An einem sonnigen Tag im Frühsommer war ich mit unserer ältesten Tochter, die damals noch den Kindergarten besuchte, unterwegs und wir konnten einige Schwalben bei ihren kunstvollen Flügen zusehen. Da meinte sie:
„Ich wollt‘ ich wäre auch ein Vogel!“ und sie sah sehnsuchtsvoll den Schwalben bei ihren eleganten Flugbewegungen zu. Nach einer Weile aber überlegte sie bei sich: „Aber dann müsste ich ja Würmer essen!“ Und mit einem Male schien ihr der Traum ein Vogel zu sein, nicht mehr ganz so erstrebenswert. Kamen wir im Verlauf der Zeit auf Vögel zu sprechen, sprach ich sie immer wieder mal auf ihren Traum an, selbst ein Vogel zu sein. Sie wollte zwar immer noch gerne ein Vogel sein, aber die Sache mit den Würmern vergällte ihr diesen Traum dann doch jedes Mal.
So vergingen Jahre und sie besuchte inzwischen die 3. Klasse. Irgendwie kamen wir dann wieder einmal auf das Thema Vögel und Flugkünste zu sprechen und ich sprach sie auf ihren Wunsch an, ein Vogel zu sein. Das fände sie ganz toll, entgegnete sie und auf meinen Einwand mit den Würmern entgegnete sie: „Die würden mir als Vogel dann ja schmecken!“
Sie hatte den Rubikon des 9. Lebensjahres überschritten, der ihr ermöglichte die Welt und sich selbst von außen zu sehen. Mit 12 Jahren hatte sie die Gewohnheit angenommen, dem abendlichen Vorlesen für ihre 7-jährige Schwester zuzuhören. Eines Tages war nun „das Märchen von der Gänsemagd“ gelesen worden. Dieses erzählt ja wie die böse Kammerjungfer den Platz der wahren Prinzessin einnimmt, wie der alte König dieses böse Spiel durchschaut und wie am Ende des Märchens die böse Kammerjungfer unwissend ihr eigenes Urteil spricht:
„Als sie nun gegessen und getrunken hatten und guten Muts waren, gab der alte König der Kammerfrau ein Rätsel auf, was eine solche wert wäre, die den Herrn so und so betrogen hätte, erzählte damit den ganzen Verlauf und fragte: "Welchen Urteils ist diese würdig?" Da sprach die falsche Braut: "Die ist nichts Besseres wert, als dass sie splitternackt ausgezogen und in ein Fass gesteckt wird, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist; und zwei weiße Pferde müssen vorgespannt werden, die sie Gasse auf Gasse ab zu Tode schleifen." -
„Das bist du," sprach der alte König, "und hast dein eigenes Urteil gefunden, und danach soll dir widerfahren." Und als das Urteil vollzogen war, vermählte sich der junge König mit seiner rechten Gemahlin, und beide beherrschten ihr Reich in Frieden und Seligkeit.“ Nach diesem Ende war zunächst Stille, dann meinte unsere Älteste, die 12-Jährige nachdenklich: „Das muss ganz schön wehgetan haben!“ Die 7-Jährige aber meinte: „Nun ist die richtige wieder Königin!“ und war ganz zufrieden mit dem Ausgang des Märchens.
Hier zeigt sich wieder der Entwicklungsschritt des 9. Lebensjahres, des sog. Rubikons: Die Jüngere identifizierte sich ganz und gar mit der echten Prinzessin und schlüpfte hingebungsvoll in die Bilderwelt, während die Ältere das Geschehen in seinen irdischen Dimensionen erfasste. Für sie hatte sich mit dem Erleben der eigenen Persönlichkeit die „Himmelstüre“ geschlossen, die ein Verstehen der Märchen in ihren imaginativen Tiefen ermöglicht, bis die Himmelstüre kraft selbst erworbenen Imaginationsvermögens wieder geöffnet werden kann.