Urteilsfähigkeit

Rudolf Steiner, GA 301, 11. Vortrag

[...] Wenn wir uns noch einmal die drei wichtigen Abschnitte des Volksschullebens vor Augen führen, so sind es diese: vom Eintritt in die Volksschule vom 6., 7. Lebensjahr bis zum 9.; vom 9. bis ungefähr 12. Jahre; und dann vom 12. bis ungefähr zu der Geschlechtsreife. Nun liegt die Sache so, dass dasjenige, was man menschliches Urteilsvermögen nennen könnte, selbständige Urteilsfähigkeit, eigentlich erst mit der vollen Geschlechtsreife im Menschen auftritt. Eine Art von Vorbereitung findet allerdings in der menschlichen Natur auf diese Urteilsfähigkeit hin eben vom 12. Lebensjahre ab ungefähr statt. Deshalb ist dies vom 12. Lebensjahre ab eine Art von drittem Abschnitt der Volksschulzeit, weil ja gewissermaßen schon hereinleuchtet dasjenige, was dann die Hauptsache in der menschlichen Wesenheit nach erlangter Geschlechtsreife ist, die selbständige Urteilsfähigkeit.

[...]

Denn jedes Mal, wenn ein solcher Lebensabschnitt im menschlichen Gesamtleben auftritt, wird eigentlich aus der menschlichen Natur heraus richtig etwas geboren. Ich musste ja darauf aufmerksam machen, wie dieselben Kräfte, die mit dem 7. Jahre, also mit der Volksschulzeit auftreten als Erinnerungskräfte, Gedankenkräfte und so weiter, gearbeitet haben am menschlichen Organismus bis zum 7. Jahre, so dass der stärkste Ausdruck dieses Arbeitens das Erscheinen der zweiten Zähne ist. [...]

Wiederum mit der Geschlechtsreife werden andere Kräfte selbständig, die uns in die Außenwelt in der mannigfaltigsten Weise einführen. Aber in dem System dieser Kräfte ist zugleich enthalten das menschliche selbständige Urteilsvermögen. So dass wir sagen können: der eigentliche Träger des menschlichen Urteilsvermögens, dasjenige im Menschen, was die Kräfte enthält, die ein Urteil hervorbringen, das wird im Menschen im Grunde genommen erst mit der Geschlechtsreife geboren und bereitet sich langsam zur Geburt vor vom 12. Jahre ab.

Wenn man dies weiß und richtig würdigen kann, dann ist man sich auch bewusst, welche Verantwortung man übernimmt, wenn man den Menschen zu früh an selbständiges Urteil gewöhnt. Ja, in dieser Beziehung herrschen ja insbesondere in der Gegenwart die allerverderblichsten Vorurteile: man möchte so früh wie möglich den Menschen an selbständige Urteile gewöhnen.

Wir haben gesagt: der Mensch ist so zu halten bis zur Geschlechtsreife, dass er unter dem Einfluss der Autorität steht, dass er anerkennt irgend etwas deshalb, weil es die selbstverständlich neben ihm wirkende Autorität eben gebietet, eben so will. Wenn wir das Kind gewöhnen, in der richtigen Weise zu uns als Lehrer, als Erzieher zu stehen und hinzunehmen die Wahrheit, weil wir sie als Autorität vertreten, gerade dann bereiten wir das Kind in der richtigen Weise vor, später im Leben ein freies, ein selbständiges Urteil haben zu können. Wollen wir nicht als selbstverständliche Autorität neben dem Kinde stehen, wollen wir gewissermaßen verschwinden, und fordern alles der kindlichen Natur ab, dann bearbeiten wir dieses Kind so, dass wir seine Urteilsfähigkeit zu früh herausfordern, ehe das, was wir also astralischen Leib nennen, mit der Geschlechtsreife erst selbständig frei erscheint; wir bearbeiten das, was wir so astralischen Leib nennen, indem es noch in der physischen Natur des Kindes drinnen wirkt. Dadurch prägen wir dem Kinde, wenn ich mich jetzt so ausdrücken darf, in sein Fleisch ein dasjenige, was wir ihm nur einprägen sollten in seine Seele. Dadurch aber bereiten wir in dem Kinde etwas vor, was sein ganzes Leben als ein Schädling in ihm leben wird. Denn es ist etwas ganz anderes, ob wir zum freien Urteil, nachdem wir gut vorbereitet sind, im 14., 15. Jahre heranreifen, wo der astralische Leib, der der Träger des Urteils sein kann, frei geworden ist, oder ob wir früher herangezogen werden zum so genannten selbständigen Urteil. Im letzten Fall wird nicht unser Astralisches, das heißt unser Seelisches, herangezogen zum selbständigen Urteil, sondern da wird unser Leib herangezogen. Unser Leib aber wird herangezogen mit allen seinen naturgemäßen Eigenschaften, mit seinem Temperamente, mit seiner Blutbeschaffenheit, mit alledem, was in ihm Sympathie und Antipathie hervorruft, mit alledem, was ihm keine Objektivität gibt. Mit anderen Worten, wenn das Kind zwischen dem 7. und 14. Jahre schon selbständig urteilen soll, so urteilt es aus demjenigen Teil der Menschennatur heraus, der später niemals wiederum abgestreift werden kann, wenn wir nicht dafür sorgen, dass er selber in naturgemäßer Weise in der Volksschulzeit versorgt wird, nämlich durch Autorität. Lassen wir zu früh urteilen, so urteilt der Leib das ganze Leben hindurch. Dann bleiben wir ein schwankender Mensch in unserem Urteil, der abhängig ist von seinem Temperament, von allem möglichen in seinem Leibe. Werden wir so vorbereitet, wie es der Natur unseres Leibes entspricht, wie der Leib es fordert durch seine eigene Natur, werden wir zur rechten Zeit in Anlehnung an die Autorität erzogen, dann wird in der richtigen Weise frei dasjenige, was urteilen soll in uns, dann werden wir später auch im Leben ein objektives Urteil gewinnen können. So ist die beste Vorbereitung zur selbständigen, freien menschlichen Persönlichkeit die, wenn wir das Kind nicht zu früh zu dieser freien Persönlichkeit bringen, sondern im rechten Lebensalter. [...]

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